1945-1995-2025

7. Mai 2025
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Nydeggkirche und Berner Münster | © Christoph Knoch

1945-1995: Berner Gedenkfeier zu 50 Jahre Kriegsende

Am 7. Mai 1995 hat eine Vorbereitungsgruppe der CJA Bern (Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft) das offizielle Gedenken an 50 Jahre Kriegsende im Berner Münster vorbereitet.

Textheft

Das Geleitwort zur Gedenkfeier ist 30 Jahre später noch aktuell

Schweizer Bischofskonferenz
Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund
Christkatholische Kirche der Schweiz
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund

      Gemeinsamer Aufruf zum 8. Mai

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

Am 8. Mai werden in der Schweiz die Kirchenglocken zur Besinnung und zum Gebet einladen. Sie erinnern an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa vor 50 Jahren.

Der 8. Mai ist ein Tag des Gedenkens: Mit Respekt und Trauer gedenken wir der Opfer dieses Krieges. Millionen von Menschen sind damals ermor­det worden. Millionen sind allein im Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus gefallen. Millionen haben durch den Krieg ihr Leben verloren.

Der 8. Mai ist ein Tag des Erinnerns: Leid, Not und Zerstörung können und dürfen nicht vergessen werden. Noch heute leiden viele der Über­lebenden an den Folgen von Krieg und Schoa. 1945 waren sich alle einig: Nie wieder! Und heute?

Der Tag des Waffenstillstandes ist auch ein Tag des Dankes und der Be­sinnung! Dank gebührt den Männern und Frauen, die sich für unsere Freiheit und Unabhängigkeit eingesetzt haben. Wir vergessen dabei nicht, und es schmerzt uns, dass sich auch unser Land in Schuld ver­strickt hat.

Die Schweiz ist vom Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont worden. Dafür danken wir Gott! Umso mehr haben wir die Verpflichtung, im Gebet und im praktischen Einsatz für Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden einzustehen.

Freiburg, Bern und Zürich, 22. April 1995

 

Conférence des évêques suisses
Fédération des Eglises protestantes de la Suisse
Eglise catholique-chrétienne de la Suisse
Fédération suisse des communautés israélites

      Appel commun du 8 mai

Chères concitoyennes, chers concitoyens,

Le 8 mai, dans toute la Suisse, les cloches appelleront au recueillement et à la prière. Elles rappelleront la fin de la deuxième guerre mondiale en Europe, il y a 50 ans.

Le 8 mai sera un jour de souvenir: avec respect et tristesse, nous nous souviendrons des victimes de cette guerre. Des millions d’êtres humains y ont été assassinés. Des millions sont tombés, rien que dans le combat contre le national-socialisme et le fascisme. Des millions ont perdu la vie dans cette guerre.

Le 8 mai sera un jour de souvenir: souffrance, misère, destruction ne peuvent et ne doivent être oubliées. Aujourd’hui encore, nombreux sont les survivants qui souffrent des conséquences de la guerre et de la Shoah. En 1945, tout le monde était d’accord: plus jamais ça!. Et au­jourd’hui?

Le jour de l’armistice est aussi un jour de reconnaissance et de recueille­ment! Les femmes et les hommes qui se sont engagés pour notre liberté et notre indépendance ont droit à notre reconnaissance. Mais nous ne saurions oublier, et nous en sommes affligés, que notre pays eut aussi certains comportements coupables.

La Suisse a été largement épargnée par la guerre. Nous en remercions Dieu! Mais nous avons donc d’autant plus le devoir de nous engager, par la prière et par des actions concrètes, en faveur de la réconciliation, de la justice et de la paix.

Fribourg, Berne et Zurich, 22 avril 1995

Conferenza dei vescovi svizzeri
Federazione delle Chiese evangeliche della Svizzera
Chiesa cattolica-cristiana della Svizzera
Federazione svizzera delle communità israelitiche

      Appello comune per l’ 8 maggio

Care concittadine, cari concittadini,

L’8 maggio le campane delle chiese svizzere inviteranno al raccoglimento ed alla preghiera, per ricordare la fine della seconda guerra mondiale, in Europa, 50 anni fa.

L’8 maggio è il giorno della commemorazione: con rispetto e dolore ricor­diamo i morti di questa guerra. Milioni di esseri umani sono caduti nella lotta contro il nazismo ed il fascismo. Milioni hanno perso la vita durante la guerra.

L’8 maggio è il giorno del ricordo: sofferenza, fame e distruzione non pos­sono e non devono essere dimenticati. Ancora oggi molti sopravvissuti soffrono delle conseguenze della guerra e della Shoà. Nel 1945 tutti era­no d’accordo: mai più! E oggi?

Il giorno della tregua è anche un giorno di ringraziamento e di raccogli­mento! Siamo grati agli uomini ed alle donne che si sono impegnati per la nostra libertà ed indipendenza. Non dimentichiamo, anzi, siamo addolo­riati per il fatto che anche il nostro paese si è fatto coinvolgere nella colpa.

La Svizzera è stata risparmiata quasi completamente dalla seconda guerra mondiale. Per questo ringraziamo Dio! Ancor più siamo obbligati ad impegnarci per la riconciliazione, la giustizia e la pace con la preghiera e con atti di solidarietà.

Friburgo, Berna e Zurigo, 22 aprile 1995

Zum Geleit

  1. Mai 1945: Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa.

Dankbarkeit, Freude und Erleichterung erfasste die ganze Bevölkerung.

Beinahe in allen Gemeinden versammelte sich Alt und Jung zu Dankgottes­diensten. Glockengeläute in der ganzen Schweiz kündete von dieser Freude und der Hoffnung auf Frieden und Freiheit.

  1. Mai 1995: Tag des Gedenkens und der Mahnung.

Die Erinnerung an diesen Tag weckt immer noch in vielen Mitmenschen Gefühle tiefer Dankbarkeit. Zugleich lässt sie heute die eigene Geschichte während der Kriegsjahre und der Zeit zuvor in einem neuen Licht erkennen.

Aufrichtige Dankbarkeit schliesst aber auch die Trauer über das unermessliche Leid der Opfer, die Reue über eigenes Fehlverhalten und die Mahnung an die eigene und künftige Generation mit ein.

In diesem Geist hat es die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft Bern (CJA) unternommen, eine Stunde des Gedenkens zu gestalten. Im Laufe der Vorberei­tungen und nach Einladung an die Bundesbehörden, die Kirchen und den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) entwickelte sich diese zu einer na­tionalen Gedenkfeier.

Dankbar für diese Initiative laden die Kirchen und der SIG gerne zu dieser Feier ein. Im Blick auf die Verheissung des Psalmisten, dass „Gnade und Treue sich begegnen und Gerechtigkeit und Friede sich küssen werden“ (Psalm 85, 11) erhoffen sie sich Impulse zu einer landesweiten Besinnung über den gemeinsamen Auftrag in dieser Zeit.

 

Schweizer Bischofskonferenz
Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund
Christkatholische Kirche der Schweiz
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund

 

Ansprache von Bundesrat Otto Stich
(transkribiert nach dem Mitschnitt der Direktübertragung)

8. Mai 1945: Ende des Krieges in Europa. Wir begehen heute gemeinsam einen Tag des Gedenkens an dieses Ereignis. Ich habe mich gefragt, ob ein solches Gedächtnis überhaupt geziemend sei, denn wir Schweizer haben zur Beendigung des Krieges nichts beigetragen. Ein gütiges Schicksal, unser eigener Wille, die Freiheit zu verteidigen, und anders gelagerte Interessen der kriegführenden Mächte haben uns vor dem Krieg verschont. Es ist für uns daher unbestrittenermaßen auch ein Tag des Dankes an jene, welche die nationalsozialistische Schreckensherrschaft in Europa unter großen Opfern niedergerungen haben. Es ist aber auch ein Tag der Trauer und der Reue über das Geschehene, der Mahnung und der Hoffnung für die Zukunft. Ich habe mich gefragt, ob das Datum für diese Feier richtig sei. Ob die Besinnung nicht zu früh oder aber zu spät erfolge. Zu früh, weil in Asien an jenem 8. Mai 1945, der Krieg noch unvermindert heftig und brutal während Monaten weiterging bis zum Abwurf auch noch der zweiten Atombombe. Zu spät, weil vieler Ereignisse vor Ausbruch des Krieges zu gedenken wären, die auf die kommenden Katastrophen hindeuteten. Ich denke hier vor allem an das Jahr 1933 mit Reichstagsbrand, Ausschaltung der freien Presse, Verbot der Kommunistischen Partei, dann das kurz darauf beschlossene Ermächtigungsgesetz und dem damit einsetzenden rasanten Abbau der Demokratie in Deutschland an das Verbot der Sozialdemokratischen Partei, die als einzige gegen das Gesetz gestimmt hatte, an die Auflösung des Parlamentes. Die Ausserkraftsetzung der Verfassung, die Zerschlagung der Gewerkschaften, die stufenweise Entrechtung der Juden durch die Nürnberger Gesetze und dann 1938 die sogenannte Reichskristallnacht, die mit Kristall nichts zu tun, mit Terror aber sehr viel zu tun hat. Dies waren einzelne Marksteine auf dem Weg zu diesem schrecklichen Krieg. Dass dieser Krieg geschehen ist, dass dabei über 60 Millionen Menschen ihr Leben ließen, das unsägliche Leid, das über Generationen von Menschen gebracht wurde, ist heute ein Grund zur Trauer. So begrüsse ich Sie, meine Damen und Herren, hier im Berner Münster und bedanke mich bei den Initianten und den Organisatoren für diese Stunde des Nachdenkens. In welcher wir, die wir diese Zeit zwischen 1933 und 1945 erlebt haben, uns fragen sollten: Wo bin ich gestanden und was habe ich getan? Für die später Geborenen könnte die Frage lauten: Wo wäre ich gestanden und was hätte ich getan? Die Antwort ist heute einfacher zu geben als damals. Stellen Sie sich die politische Lage von 1940 und all die Spannungen vor. Am 10. Juni 1940 trat Italien in den Krieg ein, und am 22. Juni kapitulierte Frankreich. Damit war die Schweiz völlig von den Achsenmächten umgeben. Spätestens dann wussten wir, dass der Spielraum für Regierung und Armee klein wurde. Glauben Sie mir: Da haben wir für die Standfestigkeit der Regierung gebetet. Das Vertrauen in den General war hingegen völlig unbestritten. Dennoch, weniger Willfährigkeit und mehr Zivilcourage wären geboten gewesen. Vor Ausbruch des Krieges und während des Krieges, bei der Einführung des Judenstempels und dann auch ab 1941 in der Asylpolitik. Die Schweizer Justiz- und Flüchtlingspolitik wurde zwar vom Bundesrat bestimmt. Es wäre aber falsch zu glauben, dabei hätte es sich nur um einsame Entscheide gehandelt. Viele Kreise der Bevölkerung waren damit durchaus einverstanden. Damals wussten es einige. Heute wissen wir es alle: Diese Politik trieb viele Menschen in den Tod. Mit dieser Tatsache sehen wir uns heute konfrontiert.

Auch wenn sich die jüngeren Generationen nicht vorstellen können, unter welch immensem Druck damals Bundesrat und Bevölkerung standen. Dennoch bleibt Grund und Anlass zur Reue darüber, dass man nicht merken wollte, dass man hinweg sah, dass man beschwichtigte. Umso dankbarer sind wir heute dafür, dass Einzelne viel Mut und Zivilcourage gezeigt haben und dennoch Hilfe geleistet haben. Hauptmann Grüninger, Botschafter Lutz, die Flüchtlingsmutter Gertrud Kurz und viele, viele andere. Die Stunde gebietet es, der Menschen, die sich in schweren Zeiten für Menschenwürde, Freiheit und Demokratie eingesetzt und gekämpft haben, in Dankbarkeit und mit Respekt zu gedenken. Die Stunde der Besinnung bleibt ohne Sinn, wenn wir nicht versuchen, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen. Ich selber bin durch diese Zeit stark geprägt und habe mich immer wieder gefragt, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Ich bin zum Schluss gekommen: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Frieden seien einmal erworben, nicht auf ewig gesichert, sondern müssen Tag für Tag neu verteidigt werden. Vor allem aber genügt es nicht, immer bei der Mehrheit zu sein. Gelegentlich setzt Verantwortung nicht nur Wissen, sondern auch Mut zur eigenen Meinung, Mut zur Tat und Bereitschaft zur Solidarität voraus. Es mangelt uns dafür nicht an Gelegenheiten. 50 Jahre Kriegsende heißt leider nicht 50 Jahre Frieden. Die Geschichte der Kriege und Konflikte seit 1945 füllt Bände. Seit drei Jahren tobt quasi vor unserer Haustür ein Krieg, in dem es auch nur Verlierer geben wird. Die Erkenntnisse über die Zeit zwischen 1933 und 1945 haben auch nicht ausgereicht, um den Faschismus unmöglich zu machen. Gewisse Vorfälle hier in der Schweiz, politische Tendenzen und zum Beispiel auch die letztjährigen Diskussionen um ein Rassismusverbot müssen uns eine Mahnung dafür sein, dass Wachsamkeit und Zivilcourage wieder geboten sind.

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten, mit sozialen Spannungen haben Demagogen ein leichtes Spiel. Es wird dann einfach, die Schuld für Schwierigkeiten, den anderen zuzuschieben und politische und andere Gegner auszugrenzen. Meine Damen und Herren, vergessen wir trotz allem eines nicht, in diesen schwierigen Zeiten gab es in der Schweiz auch Positives. Die Schweiz war in den Kriegsjahren solidarischer, sie war politisch, kulturell und sozial zusammengewachsen. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat an diese Solidarität und an diesem Zusammengehörigkeitsgefühl leider etwas genagt. Partikulärinteressen und Ausgrenzungstendenzen prägen die aktuelle politische Diskussion. So mag in der heutigen Stunde der Besinnung die Hoffnung wachsen, die Schweiz werde in Zukunft die Solidarität in der Gemeinschaft neu entdecken und verwirklichen, auch ohne Bedrohung von aussen. Dies ist unsere Aufgabe. Ich danke Ihnen.