Respekt für Notre-Dame von Paris

International

Notre-Dame ist verbrannt in der Nacht vom 15. auf den 16. April 2019. Ihr Turm in der Mitte (flèche) brach zusammen. Die Welt weint, die Franzosen betrauern ein Erbe, das ihnen teuer und nahe am Herzen ist, mehr als achthundert Jahre Geschichte, Geschichten, Filme, vierzehn Millionen Besucher pro Jahr. Paris beweint einen Teil seines Herzens, es ging in Rauch auf. Aber wenn wir die Berichte in den Medien zu Herzen nehmen, wenn wir uns diese schrecklichen Bilder anschauen, können wir auch aus einem anderen, tieferen Grund weinen.

Notre-Dame von Paris ist auch eine Blutzeugin. Sie symbolisiert die Weigerung der Menschen für Gerechtigkeit zu kämpfen, sie symbolisiert den Verzicht auf den Kampf für das Gemeinwohl, für eine bessere Welt. Die Erbauer der Kathedrale waren verrückt! Narren Gottes, sagen einige, die darin die Gefahr des Fanatismus, des Proselytismus sehen wollen. Aber sie waren auch erfüllt von Kühnheit, nach Gleichgewicht, trunken von Licht und Farbe! Sie waren dem Himmel zugewandt, nach oben orientiert, auf der Suche nach dem anderen möglichen Leben, auch wenn so zerbrechlich, dass sogar der Stein zu Spitzerei wurde. Die Erbauer der Kathedralen waren Kameraden, sie hatten sich zusammengeschlossen und wetteiferten zusammen mit Fähigkeiten und Technik, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen: Schönheit, Atem und Licht, Stein geworden an Orten, um Gott dem Schöpfer die Ehre zu geben.

Natürlich werden einige sagen, ein herausragendes Symbol der religiösen Macht ist verbrannt. Und dass es an der Zeit dafür war. Denn heute führt alles Reden über Religion zu Angst und Misstrauen. Denn man will die Religion aus dem Alltag, aus der Bildung, aus den Themen des Nachdenkens verbannen. Während dieser dramatischen Stunden war ich über die Scheu der Medien erstaunt, ja verärgert zu benennen, dass es sich um einen christlichen Ort und ein Symbol des Glaubens handelt. Als das ausgesprochen wurde, war es sehr schnell notwendig auch zu sagen: ja, aber es ist nicht nur ein christlicher Ort. Es ist auch ein weltlicher, ein historischer Ort! Ein wenig, als ob es notwendig wäre, wüste Wörter schnell durch andere zu ersetzen, die korrekter sind! Fast so, wie man Kindern den Mund mit Seife wäscht, wenn sie hässliche Wörter gesagt haben: Das Spirituelle muss aus der Welt, das ist das neue Dogma! Unsere ausserordentlich säkularisierten und laisierten Gesellschaften sind so weit, dass die allgemeine Wahrheit auf ihrer Seite ist und sie nehmen nichts mehr von der Spiritualität wahr, die jedem Menschen innewohnt. Jetzt glaubt die Welt an den Menschen, an die Wirtschaft, an den Laizismus!

Der schreckliche und zugleich faszinierende Einsturz des Turms der Kathedrale veranschaulicht traurigerweise diese Realität. Als ob die Notre-Dame von Paris trotz ihrer selbst geschrumpft ist vor dem Aufkommen einer Ära, in der der Glaube, die Spiritualität, das Nachdenken über Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung abwesend sind und als subversiv ja bedrohlich für die unbegrenzte Macht der Mächtigen und des Geldes gehalten werden. Man darf glauben, aber nur zu Hause, für sich selbst, privat und ohne zu stören. Andererseits, um vieles zu besitzen, um schimpfen zu können, ohne Grenzen verschmutzen zu können, für den persönlichen Komfort die Natur auszubeuten da will man freie Fahrt für jeden und jede, der und die es wünscht!

Dieses Feuer zerreisst mir das Herz, wie Millionen von Menschen. Wie der Pariserin im französischen Fernsehen, die sagte: „Wir sind eins, in Gemeinschaft verbunden durch Trauer und Hilflosigkeit.“ Verbunden, ja. Aber warum brauchen wir eine Kathedrale, die einstürzt, um zueinander zu finden? Die Katastrophe von Notre-Dame sollte uns dazu bringen, über die vertikale Dimension des menschlichen Lebens nachzudenken. Was ausser Bildung, Geld, Wohlbefinden, was lässt uns aufrecht stehen? Wir könnten auch Bauleute werden, es wagen, unsere Kühnheit gen Himmel wachsen zu lassen! Wir könnten das Zerbrechliche unseres Weltgebäudes akzeptieren, in dem wir leben, und miteinander wetteifern in Fähigkeiten und Intelligenz, um die Schöpfung, den Planeten und die Menschheit zu bewahren. Die Erbauer der Kathedralen redeten nicht nur, reihten Reden an Reden und träumten von Macht! Sie arbeiteten mit ihren Händen, ihren Werkzeugen, und vor allem fanden sie Nahrung in ihren Träumen! Sie wurden für verrückt gehalten, aber die Kathedralen, die sie zurückliessen, sind Zeugen der Tatsache, dass ihre Verrücktheit ein Wurf ohne Grenzen war, der uns heute noch überholt.

Notre-Dame von Paris hat gebrannt. Über das Drama europäischen Ausmasses hinaus, jenseits der Traurigkeit von denen, die sie besucht haben, die da etwas wichtiges erlebt haben, jenseits der verlorenen oder verwüsteten historischen Schätze, beklagen wir auch die Entwurzelung des Menschen, der in Angst und Verzweiflung auf sich selbst zurückgegriffen hat. Die Welt hat ihre Wurzeln im Himmel verloren, und die Muttergottes/notre Dame hat es uns gerade gesagt, trotz ihrer selbst, auf dramatische und fast unheilbare Weise.

Solidarität wird es geben. Millionen werden sicher für den Wiederaufbau freigegeben werden. Aber ich frage mich heute, wie viele Millionen sind wir bereit zu finden, um zu verhindern, dass die Kathedrale, unser Planet, vollständig zerstört wird, zerstört durch die Macht des Geldes und die Gott gleiche Wirtschaft, durch ungebremsten Konsum ? Ich frage mich, wie viele Millionen wären wir bereit zu sammeln, um Beziehungen zu knüpfen, um gegen Vereinfachungen, Verkürzungen Dummheit und Hass zu kämpfen. Ich frage mich, wie viele weitere Kathedralen Türme noch in Flammen aufgehen müssen, bis wir verstehen, dass wir alle miteinander in Beziehung stehen; wenn wir nicht aufhören, auf unsere Füße zu schauen, unsere Augen abzuwenden, den Inhalt unserer Portemonnaies zu zählen, wenn wir nicht aufhören, den anderen als Feind zu betrachten, können alle Kathedralen der Welt brennen und fallen, es wird sich nichts ändern.

Respekt für Notre-Dame von Paris, für die Erbauer, die mit Licht, Glas, Stein und einem langen Atem gebaut haben. Respekt für diejenigen, die dafür kämpfen, so viele wie möglich zu erhalten. Und mit der gleichen Logik, Respekt für die Männer und Frauen, die dafür kämpfen, Beziehungen zu knüpfen, um zu heilen, zu lieben und um zu geben. Respekt für die, die für die Rettung der Kathedrale Erde kämpfen, die das dringend nötig hat.

Angst ist ein schlechter Berater, in allen Belangen. Sie nagelt am Boden fest, es scheidet, sie trennt. Hoffnung und Glaube blicken nach oben, zu den Blicken der andern, zum Himmel.

Ja, Respekt für Notre-Dame von Paris, die uns traurig wie sie ist, eine dringende Botschaft sendet: Bitte, werft nicht alle spirituellen, weltweiten Überlegungen über Bord, aber ohne religiöse Abgrenzungen und ohne Bekehrungsversuche, sondern ein gemeinsamer Kampf, eine gemeinsame Hoffnung, um die Menschheit und die Schöpfung zu bewahren!

Marie-Laure Krafft Golay, ev.-ref. Pfarrerin
Aus dem Französischen von Daniel de Roche übersetzt