«Dattelner Abendmahl» Karfreitag 1923

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Die beiden Pfarrer Werner Knoch (1928-2020) und Etienne Bach (1892-1986) im Abendmahlsgottesdienst am 10. September 1972 in der Chapelle de l’Amitié in Gray (Haute Saône) zum 80. Geburtstag von Etienne Bach

«Wir brauchen Friedensminister!» Eine überraschende Begegnung am Karfreitag.

1892 wurde Etienne Bach im lothringischen Lunéville geboren. Die Grenzen waren nah, nach Frankreichs Niederlage von 1871 hatten seine Eltern das Elsass verlassen. Der junge Etienne verbrachte 1908 einen längeren Ferienaufenthalt bei einer württembergischen Pfarrersfamilie. Aber der Erste Weltkrieg und der Tod seiner ersten Frau und der Kinder während der Spanischen Grippe liessen den Theologen an Gott und Glauben zweifeln. Eine Laufbahn als französischer Berufsoffizier sollte sein Leben wieder stabilisieren.

1923 wurde Bach mit seiner Einheit ins deutsche Ruhrgebiet abkommandiert, um die ausbleibenden Kriegsreparationen nach Frankreich zu holen. Feindselig standen sich Deutsche und Franzosen gegenüber, vielfach kam es zu schrecklichen Auseinandersetzungen. «Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesatzung 1923-1925», so der Titel der aktuellen Ausstellung in Essen.

«Dattelner Abendmahl» am Karfreitag 1923

Im Februar 1923 wurde Bach nach Recklinghausen versetzt und wurde aufgrund seiner Deutschkenntnisse als Verbindungsoffizier eingesetzt. Bach sollte in der kleinen Stadt Datteln für Ruhe und Ordnung sorgen, doch der Bürgermeister Karl Wille lebte den «passiven Widerstand». Bach sollte ihn verhaften, sorgte aber dafür, dass er die Ostertage noch in seiner Familie verbringen konnte.

Bach schreibt in sein Tagebuch: «Am ‹hohen Donnerstag› liess ich mich nach der nächsten protestantischen Kirche erkundigen, um am Karfreitag dem Gottesdienst beiwohnen zu können. Es gab in Datteln aber nur ein ‹Lutherhaus›, das heisst einen grossen Saal, dessen Fenster von Kohlenstaub bedeckt waren (..) Pastor Wunderlich hielt die Predigt (..). Nach der Predigt teilte er (..) mit, dass eine Abendmahlsfeier stattfinden würde. (..) plötzlich hatte ich das zwingende Gefühl, auch teilnehmen zu sollen. Ich erhob mich und ging nach vorne. Aber gross war meine Bestürzung, als ich entdeckte, dass ich vor dem Altar mit dem Bürgermeister Wille zusammentreffen würde (..). Die gleiche Bestürzung war auch an ihm zu bemerken. (..) Jeder Versuch zurückzugehen war unmöglich. Wille erhielt als erster das Brot und ich den Wein. Wir standen Seite an Seite, unbeweglich, von einer unwiderstehlichen Kraft gehalten. Die Kirchgänger, die verstanden, was sich da eben zugetragen hatte, lächelten uns beim Ausgang zu.» (zitiert nach Gertrud Kurz, Im Dienst des Friedens, Wuppertal 1966, S. 5f.)

Dieses Erlebnis hat Etienne Bach verändert. Er verliess die Armee und war in den kommenden Jahren unermüdlich unterwegs, um von seinem Erlebnis zu berichten und lokale Gruppen der «Chevaliers servants du prince de la Paix», der «Kreuzritter», zu gründen. Die Schweizer Flüchtlingsmutter Gertrud Kurz und die Berner Anthroposophin Dorothea Münger wurden durch ihn zu engagierten «Friedenskämpferinnen». Daraus entwickelte sich der «Christliche Friedensdienst». 1941 wurde Bach Pfarrer und wirkte bis1944 in Annemasse. Von dort aus halfen seine Frau Jeanne und er zahlreichen (auch jüdischen) Flüchtlingen über die Grenze in die Schweiz. Jeanne starb 1949.

Le Colonel, so wurde er genannt, liess sich mit Eugenie, seiner dritten Frau, in Margilley (Haute-Saône) nieder. Dank seiner Offizierspension konnte er sich für die Protestanten um Margilley und Gray engagieren und an zahlreichen Orten Vorträge halten, in denen er für ein staatliches «Friedensministerium» warb und seinen «Friedensdienst» weiterführte. 1964 begegneten meine Eltern Etienne Bach in Königsfeld im Schwarzwald. Bach suchte eine Partnergemeinde für Gray und von 1965 an gingen die Besuche zwischen Gray und dem württembergischen Frommern hin und her. Gemeinsame Gottesdienste und Abendmahlsfeiern schufen Brücken.

1968/69 baute das Evangelische Jugendwerk Württemberg in wenigen Wochen die «Kapelle der Versöhnung». War es Zufall, dass ein an einem anderen Ort geplantes Bauprojekt nicht realisiert werden konnte?

Unvergesslich sind für mich die versöhnenden Erlebnisse zwischen Deutschen und Franzosen, zwischen ehemaligen Mitgliedern der Résistance und Deutschen, die als Kriegsgefangene in der Fremdenlegion kämpfen mussten.

Das von meinem Vater 1968 initiierte Kreuz «Zwölf Mal Ruf zum Frieden» in der Frommerner Kirche erinnert bis heute daran.

Christoph Knoch, Bern

 

Mehr zum Dattelner Abendmahl:

Das Dattelner Abendmahl von 1923 – Erzfeinde am Tisch des Herrn («Von Tag zu Tag», 5. April 2023, Udo Feist, Deutschlandfunk)
Gespräch zwischen Christoph Knoch und Stefanos Athanasiou (Radio Maria, 28. März 2028)
Präses Annette Kurschus in Chrismon (März 2023): «Versöhnung im Kleinen»
«Ein Abendmahl, das Brücken baute»
(Christoph Knoch, reformiert. Bern, April 1923, S.9)

Kirchengemeinde Datteln: 100 Jahre Dattelner Abendmahl (19. März 2023) | Kurztext 

Eine gute Übersicht bietet der Eintrag in Wikepedia zu Etienne Bach.
Dissertation von Sarah-Christin Leder, Das „Dattelner Abendmahl“ (1923) und die Kreuzritterbewegung, Etienne Bachs christliche Friedensarbeit zwischen den Weltkriegen.
Thomas Mämecke, Das „Dattelner Abendmahl“ von 1923 – Erinnerung an eine legendäre Episode aus der Zeit der Ruhrbesetzung; veröffentlicht in: Kirche im Revier 20 (2007), S.12-20.
Martin H. Jung, Wagnis Versöhnung: Das „Dattelner Abendmahl“, Etienne Bach, Gertrud Kurz und die „Kreuzritter für den Frieden“ (Osnabrücker Studien zur Historischen und Ökumenischen Theologie) Taschenbuch – 1. Juli 2014.
Die Initiative Datteln pflegt die Erinnerung  an die Geschichte von 1923.